Landeskirche Lübeck

Unruhen in der Hansestadt

In Lübeck bildete sich schon früh eine evangelische Bewegung in Form von Hauskreisen, zunächst vor allem in Kaufmannsfamilien des Marienkirchspiels.

Der Rat versuchte mit zunächst nur halbherziger Unterstützung durch Bischof und Domkapitel die „martinianische“ Bewegung gewaltsam zu unterdrücken. Amtsenthebungen evangelischer Prediger an St. Marien, am Dom und an St. Aegidien, das dem Patronat des Domkapitels unterstand, führten 1528 zu Unruhen und zur Bildung einer reformatorisch gesinnten Opposition in der Stadt, die sich bald mit der bürgerlichen Opposition gegen die Finanzpolitik des Rates verband.

Die religiösen Unruhen gipfelten im Dezember 1529 im „Singekrieg“ gegen den Messgottesdienst. Der Rat gestattete hierauf die evangelische Predigt.

1530 folgten die Zulassung des Abendmahls in beiderlei Gestalt, die Einsetzung Kirchgeschworener, die Umwandlung der Bettelklöster und weitere gravierende Strukturveränderungen des Kirchenwesens.

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Im Bild ein Lübecker Löwe - eine der vier Tierstatuen, die lebensgroße Löwen darstellen. Sie stehen für Lübeck als Löwenstadt, versinnbildlichen, aber auch die Wehrhaftigkeit der Hansestadt. Zwei von ihnen haben durch ihre Platzierung vor dem Lübecker Holstentor mit dem Wahrzeichen weltweite Bekanntheit erlangt (Quelle: wikipedia).  © Lena Mordrow.

Ganz oben am Seitenanfang eine Ansicht der Lübecker Altstadt mit Traveufer. © Peer Frings, adobe stock

Einführung der Reformation

Die bürgerliche Opposition erzwang über die Installierung des „Bürgerausschusses“ die Beteiligung am Stadtregiment, darunter auch an den kirchlichen Leitungskompetenzen.

Der Rat stimmte der Einführung der Reformation zu. Seit 28. Oktober 1530 verhandelte Johannes Bugenhagen (1485–1558) mit dem Rat, der Bürgerschaft und den Predigern über die Gestaltung der neuen Kirchenordnung, die am 27. Mai 1531 veröffentlicht werden konnte. Gleichzeitig hatte die Stadt dem Domkapitel die Übertragung aller kirchlicher Eigentumsrechte mit Ausnahme der am Dom abgenötigt.

1535 führte der gescheiterte Krieg gegen Dänemark zur Restauration der alten Ratsverfassung. Über seine herkömmlichen obrigkeitlichen Kompetenzen erlangte der Rat nun durch das alleinige Kirchenregiment zusätzliche Herrschaftsmöglichkeiten im Wege der Sozialdisziplinierung der Bevölkerung.

Foto:  St. Marien in Lübeck - Deckenmalerei, Detail. © AnaCristina /adobe stock

Führungsrolle bei der Etablierung des Luthertums in Norddeutschland

Die geistliche Teilhabe am Kirchenregiment war hingegen schwach ausgeprägt. Für die Stabilisierung des neuen Kirchenwesens in einem konservativ-lutherischen Geiste sorgte seit 1532 Hermann Bonnus (1504–1548) als erster Superintendent der Stadt. Unter ihm erlangte Lübeck eine Führungsrolle bei der konfessionellen Verankerung des Luthertums in Norddeutschland, welche sie bis zum Ende des Zeitalters der Konfessionalisierung beibehielt. Das Lübecker Konkordienwerk, in dem die Stadt 1560 ihre konfessionelle Identität festlegte, ging 1580 in das gesamtlutherische Konkordienbuch über.

Hochburg der lutherischen Orthodoxie

Lübeck blieb bis Ende des 18. Jahrhunderts eine Hochburg der lutherischen Orthodoxie. Reformierte Zuwanderer wurden widerwillig geduldet, Katholiken, nachdem Versuche, die Reichsstadt in den Jahren der kaiserlichen Gewaltpolitik 1548 bis 1552 zu rekatholisieren gescheitert waren, nach Möglichkeit ferngehalten und nonkonformistische Gruppen wie Täufer rigoros unterdrückt. Mit der lutherisch-orthodoxen Religiosität war ein eindrucksvolles kirchenmusikalisches Schaffen (Franz Tunder, Dietrich Buxtehude) verbunden. Seit 1780 wurde der Rationalismus, wenn auch in moderater Form, dominierend. Die Sozialdisziplinierung wurde abgebaut, auf der anderen Seite sank aber auch die bürgerliche Kirchenfrömmigkeit.

Kirche mit beschränkter Autonomie

Seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert war es unter kraftvollen Superintendenten immer wieder zu kirchlichen Autonomiebestrebungen gekommen. Diese waren jedoch stets am Beharren des Rats auf dem alleinigen Kirchenregiment gescheitert.

Erst Anfang des 19. Jahrhunderts kam es zu grundsätzlichen Veränderungen in dem starren Gefüge. Die napoleonische Besetzung zwang die Stadt, die Einschränkungen für andere Konfessionen aufzuheben. Die lutherische Kirche verlor ihre Alleinstellung. 1848 wurde eine Kommission mit einem Gesetzentwurf zur Neuordnung der kirchlichen Angelegenheiten eingesetzt.

Mit den Gemeindeausschüssen führte die Kirchengemeindeordnung von 1860 erstmals ein demokratisches Element in die Kirchenverfassung ein. Doch erst mit der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche im Staate Lübeck von 1895 erhielt auch die Gesamtkirche ein eigenes Verwaltungsorgan.

Mit dem Kirchenrat wurde dem Geistlichen Ministerium eine in wesentlichen Bereichen selbstständige kirchliche Leitungs- und Verwaltungsbehörde an die Seite gestellt, deren Vorsitz allerdings einer der beiden obrigkeitlich für den Kirchenrat bestellten Senatoren hatte.

Das Geistliche Ministerium hatte nach wie vor wenig Einfluss auf die Leitung der Kirche. Die entscheidenden Aufsichts- und Außenvertretungsfunktionen nahm der personell mit dem Senat verquickte und unter dessen Aufsicht stehende Kirchenrat wahr.

Trennung von Kirche und Staat

Zu einer synodalen Kirchenverfassung kam es auch im republikanischen Stadtstaat erst infolge der von der Weimarer Reichsverfassung geforderten vollständigen Trennung von Staat und Kirche. Nach der Kirchenverfassung von 1921 übten die Kirchentag genannte Synode und der Kirchenrat gemeinsam das Gesetzgebungsrecht aus und wählten den Senior des Geistlichen Ministeriums, der zugleich geborenes Mitglied des Kirchenrates war. Als solcher hatte der Senior weniger die Funktion eines Landesbischofs als die eines pastor pastorum. Ihm oblag die Beobachtung des sittlich-religiösen Lebens, die Aufsicht über Leben und Lehre der Geistlichen und Kandidaten sowie die Ordination.

Landeskirche und Nationalsozialismus

Der Umbau der Landeskirche im Sinne des NS- und Führerstaates wurde seit 1933 konsequent von den Kirchenkommissaren Senator Dr. Hans Böhmcker (1899–1942) und dem Pastor Ulrich Burgstaller (1894–1935), der zugleich NSDAP-Bürgerschaftsabgeordneter war, betrieben.

In Lübeck gab es eine außerordentlich breite Zustimmung zur Glaubensbewegung Deutsche Christen, die sich allerdings auch einer starken Bekenntnisgemeinschaft gegenüber sah.

Auflösung von Kirchenrat und Kirchentag

Mit dem Gesetz zur Änderung der Kirchenverfassung vom 3. Juli 1933 wurde der Erfolg des jahrhundertelangen Ringens um eine ausgewogene, auf mehrere Säulen verteilte Wahrnehmung der Kirchengewalt mit einem Schlag zu nichte gemacht. Kirchenrat und Kirchentag wurden aufgelöst; die Leitung der Kirche wurde auf den neu gebildeten Kirchenausschuss übertragen.

In diesem Zusammenhang ist auch der Erlass einer neuen Verfassung und die erstmalige Schaffung des Bischofsamtes in Lübeck zu sehen. Mit dem „Gesetz zur Ordnung der evangelisch-lutherischen Kirche in der freien und Hansestadt Lübeck“ vom 6. April 1934 wurde der Kirchentag seiner demokratischen Rechte beraubt und der Kirchenrat mit unumschränkter Gewalt ausgestattet.

Zusammen mit einem Bündel weiterer, innerhalb der evangelischen Landeskirchen einmalig umfangreicher und den rassistischen NS-Staat bejahender Gesetze und Verordnungen wurde am 20. Juli 1934 eine neue Verfassung verabschiedet.

Bischof Erwin Balzer (1901–1975), vorher Pastor in Othmarschen, wurde der unumschränkte Führer der Lübecker Landeskirche. Bis 1934 nannte sie sich „Evangelisch-Lutherische Kirche im Lübecker Staate“, danach „Evangelisch-Lutherische Kirche in der freien und Hansestadt Lübeck“.

Nach dem Verlust der staatlichen Autonomie der Hansestadt durch die Eingliederung in die preußische Provinz Schleswig-Holstein 1937 blieb die Lübecker Kirche als  „Evangelisch-Lutherische Kirche in Lübeck“ eine eigenständige Körperschaft.

Lehren aus der NS-Zeit

Der Weg der lübeckischen Kirche, der bereits im Mittelalter im Spannungsfeld zwischen Christianisierung und Politik angelegt war, hatte in der NS-Zeit mit der Opferung des Bekenntnisses zugunsten politischer Lehren seine Talsohle erreicht.

Die Pastoren der Bekennenden Kirche betrachteten 1945 ihre lübeckische Kirche als von den DC zerstört und nach dem Ende der NS-Herrschaft grundsätzlich neu aufzubauen. Bedingung dafür war eine im Vergleich zu anderen Landeskirchen rigoros durchgeführte Entnazifizierung.

Unabhängigkeit von staatlichen und politischen Einflüssen

1948 wurde eine Verfassung beschlossen, die wenig Rückgriffe auf Vorheriges nahm und vor allem das Bischofsamt neu definierte.

Dem Bischof oblag in Zusammenarbeit mit der Kirchenleitung die geistliche Leitung, und er vertrat als Vorsitzender der Kirchenleitung die Landeskirche nach außen. Gewählt wurde Johannes Pautke (1888–1955), der seit 1945 eine leitende Funktion als Propst ausgeübt hatte.

Die Verfassung von 1948 verwirklichte endlich die Freiheit, sich unabhängig von staatlichen und politischen Einflüssen nach synodal-demokratischen Prinzipien zu organisieren, um den Auftrag der Kirche zu erfüllen.

Eine zerstörte Kirche

Als Lehre aus der NS-Zeit ist insbesondere Art. 1 Abs. 2 der Verfassung zu sehen:

„Die Festlegung der Kirche auf ihre formulierten Bekenntnisse kann nur dann recht sein, wenn sie bereit ist, ihren Bekenntnisstand jederzeit an der Heiligen Schrift neu zu prüfen.“

Die Übernahme des „dynamischen Bekenntnisses“ wurde bei der Gründung Nordelbiens heftig diskutiert, aber nicht durchgeführt.

Annette Göhres und Johann Peter Wurm

Literatur

Buss, Hansjörg
„Entjudete“ Kirche
Die Lübecker Landeskirche zwischen christlichem Antijudaismus und völkischem Antisemitismus (1918–1950).
Paderborn 2011

Göhres, Annette / Ulrich Stenzel / Peter Unruh (Hg.)
Bischöfinnen und Bischöfe in Nordelbien 1924–2008
Kiel 2008

Hauschild, Wolf-Dieter
Kirchengeschichte Lübecks
Christentum und Bürgertum in neun Jahrhunderten.
Lübeck 1981

Wolf-Dieter Hauschild
„Suchet der Stadt Bestes“ 
Neun Jahrhunderte Staat und Kirche in der Hansestadt Lübeck.
Hg. von Antjekathrin Graßmann und Andreas Kurschat.
Lübeck 2011

Jannasch, Wilhelm
Reformationsgeschichte Lübecks vom Petersablaß bis zum Augsburger Reichstag 1515–1530 
Lübeck 1958